Annette Bathen, Jan Bunse (2020). Getting real. Urbane Reallabore als Gemeinschaftsaufgabe.

Während Reallaboren im wissenschaftlichen Diskurs eine Vielzahl an Definitionen und Charakteristika zugeschrieben werden, sind Überlegungen, Untersuchungen und Diskussionen über reale Bedingungen in Reallaboren bisher nur schwer zu finden. Dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, diese Lücke zu schließen, sondern bietet Impulse für einen verbesserten wissenschaftspraktischen Umgang mit Akteur:innen, Prozessen und Räumen in Realexperimenten. Die Heterogenität der beteiligten Akteur:innen bietet neben der Gefahr von Interessen- oder Zielkonflikten auch die Möglichkeit, durch gegenseitiges Vertrauen, Perspektivwechsel und klare Kommunikation gemeinsam verwertbares Handlungswissen zu generieren sowie eine tatsächliche Nähe zwischen und Identität von Praxis- und Forschungspartner:innen zu erreichen. Eine stärkere Achtung menschlicher Beziehungen, von Rollenverständnisse und sozialen wie kooperativen Lernprozessen kann zudem zu einer Verstetigung und Nachhaltigkeit der angestrebten Entwicklungen beitragen. Auch die Perspektive auf Räume und Reallabororte als Treffpunkt, Verhandlungsort, Gebietskulisse und Wirkungsraum bietet Chancen für eine wissenschaftliche und umsetzungsorientierte Weiterentwicklung der Reallaborpraxis.

 

1 Erfahrungen aus realen Laboren

Mit den derzeitigen Entwicklungen um transformative Forschung bemüht sich die Wissenschaft um einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Reallabore sollen Transformationsprozesse ermöglichen, durch Wissen Handeln generieren, an konkreten geografischen Orten beheimatet sein, einen Beitrag zur Nachhaltigkeitstransformation leisten, Praxisakteur:innen und Wissenschaft auf Augenhöhe kooperieren lassen und langfristige und übertragbare Lösungen hervorbringen. In den letzten Jahren sind hierzu viele Anforderungslisten entstanden (Schneidewind 2014; Parodi/Beecroft/Albiez et al. 2016; Schäpke/Stelzer/Bergmann et al. 2017; Pregernig et al. 2018; Wagner/Grunwald 2019). Vor dem Hintergrund, dass die Frage nach der guten wissenschaftlichen Praxis bei Forschenden eine bedeutende Rolle spielt und die Suche nach geeigneten wissenschaftlichen Methoden nie endet, überrascht das nicht. Zudem ist Grundlagenforschung für die jungen transdisziplinären und transformativen Formate unabdingbar.

In der Wissenschaft hat sich der Reallabordiskurs in der Regel um die Frage gedreht, wie Wissenschaftler:innen ihre Umwelt so erforschen können, dass sie zu gesicherten und evidenten Erkenntnissen gelangen, nicht aber wie die Forschenden in ihrer Umwelt und mit den dort lebenden Menschen unter realen Bedingungen gemeinsam Erkenntnisse erlangen können. Diesen realen Bedingungen, unter denen die transformativ Forschenden arbeiten, wird im Reallabordiskurs bisher eine geringe Bedeutung zugemessen. Reale Räume, reale Akteur:innen und reale Prozesse in Reallaboren werden kaum tiefgehend behandelt. Das gilt auch für die Doppelrolle, die die Forschenden außerhalb ihrer gewohnten Umgebung einnehmen, ebenso wie die Perspektive der Praxisakteur:innen, die in der konventionellen Forschung beforscht wurden und nun Teil des wissenschaftlichen Systems sind oder werden. Auch der WBGU thematisiert die strukturellen Herausforderungen Inter- und Transdisziplinarität, Partizipation, Lösungsorientiertheit, jedoch werden auch dort die Anforderungen an transformative Forschung betont, während die realen Umsetzungsmöglichkeiten dieser Ansprüche vernachlässigt wird (WBGU 2016: 465-468). Selbstredend sind Definitionen und Diskussionen um geeignete Methoden, Modelle von Forschungsprozessen und Überlegungen zu Langfristig- und Übertragbarkeit wichtig. Ebenso wichtig sind für die raum- und handlungsbezogene Wissenschaft in Reallaboren aber Diskussionen, Hilfestellungen und gesicherte Erkenntnisse zu den realen Bedingungen, in die sich die Forschenden begeben, wenn sie ihren Schreibtisch verlassen.

Im Rahmen unserer wissenschaftlichen und praktischen Projektarbeit für die Urbanisten finden auch wir uns immer wieder im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis wieder. Die Urbanisten sind Impulsgeber:innen, Projektmanager:innen und Beteiligungsplattform für die aktive Mitgestaltung der eigenen Stadt. Stadtforschung- und Entwicklung sollte dazu beitragen, gute Praxis in andere Kontexte zu übertragen und erfolgreiche Projekte aus anderen Städten lokal zu adaptieren. Wir sehen die Forschung dabei in einer dienenden Rolle, die lokale Akteur:innen mit Wissen, Netzwerken und Werkzeugen effektiv unterstützen kann. Wir sind als Initiator:innen, Forscher:innen und Umsetzungspartner:innen an mehreren Reallaborprozessen beteiligt: UrbaneProduktion.Ruhr, gefördert im Rahmen der Fördermaßnahme„Nachhaltige Transformation urbaner Räume“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (UrbaneProduktion.ruhr), LUZI-Labor für urbane Zukunftsfragen gefördert im Rahmen des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (Luzi.ruhr) und ProGIreg – Produktive Grüne Infrastruktur für die post-industrielle Stadterneuerung im HORIZON 2020-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation der Europäischen Kommission (HansaGruen.de).

Dieser Artikel legt den Fokus auf die realen Bedingungen. Hier gehen wir zunächst auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten ein, die auftauchen können, wenn Menschen unterschiedlicher Disziplinen, Berufe und sozialer Hintergründe sich annähern, zusammenarbeiten und kooperativ Ergebnisse erzielen möchten. Mögliche Lösungsansätze und Strategien werden angerissen, erheben jedoch aufgrund der Vielzahl an individuellen Besonderheiten und der Komplexität in Reallaboren keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel dieses Beitrags ist es, dafür zu sensibilisieren, dass Forscher:innen, die zusammen mit anderen Menschen Ergebnisse erzielen wollen, bisweilen die Metaebene verlassen und sich inner- und außerhalb ihrer Reallabore tiefergehend mit realen Akteur:innen, Prozessen und Räumen und damit den realweltlichen Rahmenbedingungen befassen müssen.

 

2 Akteur:innen, Prozesse, Räume

 

2.1 Akteur:innen: Anspruchshaltung und reale Heterogenität

Im Reallabor sollen Menschen zusammenkommen, die sich in ihren Alltagskontexten vermutlich nicht begegnen. Reallabore möchten von dieser Zusammensetzung der Akteur:innen profitieren und gemeinsam Wissen für eine Transformation hervorbringen, das weder allein durch Forschung in wissenschaftlichen Einrichtungen noch durch praktische Projekten generiert werden könnte. Die Heterogenität der Reallaborakteur:innen lässt sich aber nicht allein durch die Unterscheidung von Forschungs- und Praxispartner:inen vornehmen. Auch innerhalb der wissenschaftlichen Akteur:innen wird Multidisziplinarität beziehungsweise ein breites am Forschungsprozess beteiligtes disziplinäres Spektrum angestrebt (Schneidewind 2014: 3). Neben den Wissenschaftler:innen sollen vielfältige praktische Akteur:innen partizipieren: Engagierte Bürger:innen, studentische Initiativen, kommunale Ämter und Entscheidungsträger:innen, Einzelunternehmen und größere Betriebe, Kinder und Jugendliche. Um all diese beteiligten Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Zielvorstellungen, Erfahrungswerten, Herangehensweisen und Rollen zusammenzubringen und beisammenzuhalten, müssen Reallabore und vor allem Initiator:innen als verantwortliche Personen viel leisten. Gegenseitiges Vertrauen, Menschlichkeit, eine gemeinsame Kultur und die Akzeptanz von Doppelrollen werden hier nur als Beispiele für die vielfältigen Herausforderungen genannt, die mit den Partizipations- und Interdisziplinaritätsansprüchen einhergehen.

2.1.1 Bedürfnisse von Praxisakteur:innen

Reallabore sind bisher hauptsächlich von der Wissenschaft und aus Forschungseinrichtungen heraus initiiert worden, nur selten von Praxisakteur:innen (Wagner/Grunwald 2019: 261; Wagner/Grundwald 2015: 29; Transition Research Network). Wagner und Grundwald (2015) weisen auf die dadurch eingeschränkte Vielfältigkeit von Reallaborprojekten (Wagner/Grundwald 2015: 29). Demgegenüber steht die Theorie, in der auch die breite Gesellschaft als „Initiatior von Experimenten verstanden wird und nicht nur als auf das Experiment reagierenden oder sich anpassenden Objektes“ (Groß 2014: 79). Das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst benannte 2013 zwar auch die zivilgesellschaftlichen Partner als Anker und Initiator:innen, betont aber gleichzeitig in erster Linie die Kompetenz der Wissenschaft (Wagner/Grunwald 2015: 29). Die Aktionsforscher Greenwood und Levin beklagen bisweilen eine Unterschätzung des Wissens, dass gesellschaftliche Akteur:innen in Forschungsprozesse einbringen und kritisieren das systematische Misstrauen in die Beteilgten und die Kooptierung ihres Wissens durch die Wissenschaftler*innen (Greenwood/Levin 2007: 51). Die ungleiche Rolle in der Initiierungs- und Konzeptionierungsphase löst in vielen Fällen Frustration bei den Praxisakteur:innen aus, zumindest wenn die Forschenden nicht auf eine frühzeitige und verständnisvolle Kommunikation achten und ein Gleichgewicht zwischen ihren selbst gestecken Zielen und denen der Praxisgruppe finden (Transition Research Network). Schneidewind plädiert daher für eine Begegnung auf Augenhöhe und die Gleichbehandlung der Interessen aus Wissenschaft und Praxis, um dem Gefühl der Beforschung bei Praxisakteur:innen entgegenzuwirken (Schneidewind 2014: 4).

Praktische Projekte wie die Transition Town Initiativen haben laut einer Untersuchung des Transition Research Networks in der Regel keine intrinsische Motivation oder ein Bedürfnis, an Forschungsprojekten mitzuwirken, wenngleich positive Nebeneffekte, wie zeitliche Ressourcen der Forschenden, Impulse, neue Beziehungen und die Möglichkeit der objektiven Reflektion durch Außenstehende geschätzt werden (Webseite Transition Research Network). Bedenken gegenüber Forschungsprojekten beziehen sich häufig auf den notwendigen Aufwand von Zeit und Energie. Auch an den schriftlichen wissenschaftlichen Ergebnissen gibt es gewöhnlich kein großes Interesse, vielmehr gewünscht sind aber offene Gespräche über Dynamiken und Prozesse innerhalb der Praxisprojekte (Webseite Transition Research Network). Zivilgesellschaftliche Akteur:innen, die sich an Reallaboren beteiligen, sind in der Regel berufstätig und im Rahmen ihrer Freizeit oder ehrenamtlich tätig. Diese Erfahrung erfordert, dass die Forschenden auch in den Abendstunden und am Wochenende an den Aktivitäten des Reallabors teilnehmen, um Zusammenarbeit und gemeinsamen Erkenntnisgewinn überhaupt zu ermöglichen. Auch Selbstständige und Unternehmen ebenso wie Institutionen und Bildungseinrichtungen verfügen häufig nur über sehr geringe zeitliche Ressourcen. Die Hemmschwelle, diese Ressourcen für fremdgesteuerte Projekte aufzuwenden, ist erfahrungsgemäß sehr groß.

Die Zurückhaltung von Praxisakteur:innen gegenüber Forschungsprojekten liegt zudem darin begründet, dass sich die Debatten um Reallabore und transformative Forschung weitestgehend im wissenschaftlichen System wiederfinden (Wagner/Grundwald 2019: 261), dessen Paradigmen und Eigenlogiken von den Praxisakteur:innen widerum selten hinterfragt werden: “I … could not, when examining the membership of a scientific community, retrieve enough shared rules to account for the group’s unproblematic conduct of research. Shared examples of successful practice could, I next concluded, provide what the group lacked in rules. Those examples were its paradigms, and as such essential to its continued research” (Kuhn 1977: 318-319). Herausforderungen und Gewinne für Praxisakteur:innen und „die Frage nach verwertbarem Transformationswissen oder nach realer transformativer Wirkung“ (Wagner/Grundwald 2019: 261) wird jedoch weit weniger thematisiert. Zudem werden für die transformative Forschung häufig neue Projekte ins Leben gerufen, während „bereits existierende Transformationansätze und Realexperimente von ‚Pionieren des Wandels‘“ (Wagner/Grundwald 2019: 261) kaum aufgegriffen werden. Um dieser Entwicklung entegegenzuwirken fordern Wagner und Grunwald einen “größeren Handlungsspielraum und Förderangebote für Praxispartner” (Wagner/Grunwald 2015: 29).

2.1.2 Die Doppelrolle der Forschenden

Wissenschaftler:innen finden sich in Reallaboren häufig “zwischen passiver Begleitforschung und aktiver Intervention” (Wagner/Grunwald 2015: 29) wieder. Diese Situation verlangt nacht Antworten auf die Frage, wie Forschende in Reallaboren mit dem doppelten Anspruch von Wissenschaft und Praxis umgehen können. Mit einer ähnlichen Frage beschäftigt sich derzeit die Planungswissenschaft, die neue Formen der gemeinschaftlichen Planung für räumliche und soziale Veränderungsprozesse anstrebt (Lamker/Levin-Keitel 2019: 107). Teile der Planungswissenschaft sehen Schnittstellen zur Transformationsforschung und verstehen Planung als Teil eines großen gesellschaftlichen Wandels, der mit einer „größeren Diversität von Akteuren“ (Lamker/Levin-Keitel 2019: 107) in Planungsprozessen mitgestaltet werden kann. Diese Planung geht über die etablierten Planungsprozesse, -akteur:innen und die Grenzen der öffentlichen Verwaltung hinaus und verlangt von den Planenden die Veränderung ihres Rollenverständnisses und ihres Selbstbildes (Lamker/Levin-Keitel 2019: 107). Da Forscher:innen in Reallaborprozessen mit ihrem Anspruch auf Einbindung der Zivilgesellschaft, koproduktiver Generierung von Handlungswissen und Transferierbarkeit ähnliche Ziele verfolgen, liegt es nahe, Überlegungen anzustreben, die das Rollenverständnis und Selbstbild der Wissenschaftler:innen überdenken. Dazu gehört ebenso wie Lamker und Levin-Keitel es für die Planung konstatieren, Rollenverständnisse stärker in den Fokus zu rücken, um Prozesse, Interaktionen und Dynamiken in Reallaboren besser verstehen zu können und die sich wandelnden Strukturen, Normen und Werte zu erfassen (Lamker/Levin-Keitel 2019: 110). Zudem könnten die Forschenden die Verbindungen und Beziehungen zwischen sich selbst und den beteiligten Praxisakteur:innen mehr in den Fokus ihrer Erkenntnisgewinnung legen, um so auch das eigene Handeln zu hinterfragen und zu optimieren, um tatsächlich Teil des angestrebten Wandels zu sein.

2.1.3 Eine Kultur der Differenz

Eine Eigenschaft von Reallaboren, die gelegentlich unterschätzt wird, ist das Vorhandensein unterschiedlicher Weltanschauungen. Die Menschen, die an der Antragstellung, Konzeption und Umsetzung eines Reallabors beteiligt sind, und auch diejenigen, die im Projektverlauf angesprochen, informiert und beteiligt werden, besitzen oft sehr unterschiedliche Vorprägungen, Einstellungen und Überzeugungen. Die beteiligten Menschen werden auch, aber nicht nur durch die bloße Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen, marktwirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Institution sozialisiert. Auch innerhalb dieser Zuordnung können Unterschiede auftreten, die den Projektverlauf wesentlich beeinflussende: das allgemeine Verständnis eines guten Lebens, der Grad der Affinität zu digitalen Technologien, Haltungen zum Feminismus, Methoden der Arbeitsorganisation, Umgang mit Kritik, sogar Lieblingsfarben. All diese Themen können Potentiale für positive Gruppendynamiken bilden, zugleich können sie sich aber auch zu wiederkehrenden Reibungen entwickeln, die den Projektfortschritt verlangsamen oder zum Stillstand bringen können.

„Wer kooperiert, überschreitet Grenzen. Jede Kooperation berührt nicht nur die Interessen, sondern auch die Identitäten der Kooperationspartner. Ist eine solche Grenzüberschreitung nicht willkommen, ja wird sie als bedrohlich empfunden, schrecken die Beteiligten vor einer Zusammenarbeit zurück.“ (Davy 2004: 143).

Nach Benjamin Davy, der sich auf Mary Douglas’ kulturanthropologische Theorie der Polyrationalität (1978) bezieht, verteten die Beteiligten eines Kooperationsvorhabens bewusst oder unbewusst verschiedene Rationalitätstypen, die sich auch als „Weltbilder, Mythen, Kulturen, Identitäten, Eigensinn“ beschreiben lassen. „Dabei bedeutet Eigensinn nicht Starrköpfigkeit, sondern jenes Wirken subjektiver Identitäten, bei dem aus den tiefen Überzeugungen einer Person einzelne Interessen und Präferenzen gebildet werden“ (Davy 2004: 143). Nach Mary Douglas erklärt sich soziales Verhalten aus dem Zusammenspiel von vier Rationalitätstypen: „Die Rationalität der Hierarchie hebt Ordnung und Kontrolle hervor. Die Rationalität der Gemeinschaft unterstreicht Gruppenbildung und Solidarität. Die Rationalität des Individualismus betont Eigenverantwortlichkeit und Wettbewerb. Die Rationalität des Fatalismus zeichnet sich durch Gelassenheit oder Gleichgültigkeit aus. […] Keiner der vier Rationalitätstypen macht die anderen Rationalitätstypen entbehrlich“ (Davy 2004: 143).

Davy erklärt auch, dass und wie der Eigensinn der Beteiligten zum wechselseitigen Vorteil reichen kann: „Jeder Versuch, den Eigensinn zugunsten eines ‚objektive‘ Kooperationsvorteils zurückzudrängen, stößt auf Gegenwehr. Eigensinn ist aber nicht nur ein Hindernis für Kooperation, er kann auch zugunsten eines Kooperationsvorhabens genutzt werden. […] Die Rationalität des Kooperationsvorhabens darf den Beteiligten nicht einfach aufgedrängt werden, sie muss auf die Rationalitäten der Beteiligten antworten“ (Davy 2004: 143). Eine solche responsive Kooperation wird durch eine Kultur der Differenz ermöglicht, in der eine Konkurrenz der Ideale gepflegt wird: „Da die meisten Menschen ihre Wirklichkeit – bewusst oder unbewusst – monorational organisieren, fällt es ihnen schwer, andere Rationalitätstypen zu nutzen. Es ist schon schwierig, andere Rationalitäten zu tolerieren. In einer Konkurrenz der Ideale werden die hierarchische, egalitäte, individualistische, fatalistische Rationalität aber nicht bloß geduldet, sondern aktiv genutzt“ (Davy 2004: 166; Brezina/Bunse/Schulze Diekhoff et al. 2008).

Kann in Kooperationsvorhaben, in denen es scheinbar keine einheitliche Arbeits-, Organisations- und Verhandlungskultur gibt, ein verwertbares Ergebnis entstehen? „Die Ergebnisse einer Konkurrenz der Ideale sind brauchbare Entwürfe, die zumindest zwei Bedingungen erfüllen müssen. Erstens müssen diese Entwürfe so viele Merkmale jeder der vier Rationalitäten aufweisen, dass sie Beteiligte mit verschiedenartigen Rationalitäten begeistern. Zweitens sind Entwürfe brauchbar, wenn sie nicht durch eine Rationalität […] dominiert werden, ansonsten provozieren sie Betroffene mit anderen Rationalitäten zum Widerstand“ (Davy 2004: 166). Wir verstehen unsere Rolle in Reallaborprojekten häufig darin, diese für uns so wichtigen Grundbedingungen einer fairen Kooperation zu implementieren. Es geht also in jedem Reallabor auch darum, Vertrauen in das Ungewisse zu schaffen, wiederkehrende Beziehungen aufzubauen und das Verständnis für die Sichtweisen der Anderen zu stärken. Um das zu erreichen, können sich Wissenschaftler:innen auch an der Aktionsforschung nach Greenwood und Levin (2007) orientieren, die „iterativ, empirisch und reflexiv“ (Parodi/Beecroft/Albiez et al. 2016: 9) mit Beteiligten an der Lösung eines bestimmten Problems arbeitet. Die partizipativ und kooperativ ausgerichtete Forschung unter Beteiligung von Wissenschaft und Praxis bedient sich in erster Linie der „Alltagssprache“ (Parodi/Beecroft/Albiez et al.: 9), um den wissenschaftlichen Prozess für alle Beteiligten verständlich und zugänglich zu machen.

Auch das Transition Resaerch Network misst der Kommunikation bei Kooperationsprojekten zwischen Forschung und Praxis eine große Bedeutung zu: “Factors resulting in difficult experiences included poor communication and lack of clarity regarding expectations, researcher agendas that were perceived to clash with the needs of transition groups, research being conducted secretly, problematic representation of local transition projects, and overly instrumental approaches” (Transition Research Network). Transparenz und klare Kommunikation über Bedürfnisse, Erwartungen und Methoden sind also essenziell für eine gelungene Kooperation, auch in Reallaboren. Dazu gehört laut Parodi/Beecroft/Albiez et al., dass Zielkonflikte frühzeitig erkannt und diskutiert werden, um Konsens zu schaffen und diesen auch beizubehalten (2016: 18). Neben den unterschiedlichen Rollen und Selbstbildern der Beteiligten kann auch die Multidimensionalität und Vielschichtigkeit der Transformationsziele zu Konflikten führen, die es zu identifizieren gilt. „Ein offener, transparenter Umgang mit Konflikten und der Dialog mit allen beteiligten Akteur:innen erscheinen sinnvoll, eine gänzliche Auflösung von Zielkonflikten darf indes nicht erwartet werden“ (Parodi/Beecroft/Albiez et al.: 18).

 

2.2 Prozesse: Zwischenmenschlichkeit, Lernen und Machen

“Reallabore sind gesellschaftliche Arrangements, bestehend aus den Wechselwirkungen der darin agierenden Menschen, ihren spezifischen Umwelten sowie sozialen und institutionellen Verflechtungen.” (Wagner/Grunwald 2015: 26)

Definitionen von Reallaboren scheuen nicht, die charakteristischen und notwendigen Prozesse von und in Reallaboren zu benennen: Co-Design und Co-Produktion des Forschungsprozesses mit Zivilgesellschaft und Praxisakteur:innen, die langfristige Begleitung und Anlage des Forschungsdesigns, die kontinuierliche methodische Reflexion des Vorgehens sowie bereits vorhandene Erfahrung in transdisziplinären Prozessen, eine prozessbegleitende Forschung, die Erfassung relevanter Kontextfaktoren, die Dokumentation der Prozesse und die zeitnahe Rückkopplung von veränderten Entwicklungen und gesellschaftliche Lernprozessen (Schneidewind 2014: 3; Parodi/Beecroft/Albiez et al. 2016). In der Realität lassen sich diese Prozesse häufig nicht scharf voneinander trennen. Dennoch versuchen wir, die uns für den Erfolg eines Projektes und die Generierung von übertragbarem Wissen notwendig erscheinenden Prozesse im Folgenden anzureißen und auf Herausforderungen hinzuweisen, die den Forschendenden wie Praxispartner:innen in Reallaboren häufig begegnen.

2.2.1 Vernachlässigung von einzelnen Zielen als Chance?

Die unterschiedlichen persönlichen und beruflichen Hintergründe und Interessen der beteiligten Menschen, die Orientierung am gemeinsamen obersten Ziel der Transformation und dem Wunsch diese gemeinsam zu gestalten und zu entwickeln, macht Verhandlungen notwendig. Im politischen und wirtschaftlichen Raum beziehen sich Verhandlungen auf strittige Güter (Pfetsch 2006: 16). In der Wirtschaft geht es dabei häufig um Interessenskonflikte, während es im politischen System um Wertekonflikte geht, bei denen sich Verhandlungen und Konsensfindung deutlich schwieriger gestalten. In beiden Fällen sind Verhandlungen eine Form des „Ausgleichs von Interessen“ (Pfetsch 2006: 17) und dann abgeschlossen, wenn das Ergebnis und die Behandlung der strittigen Güter von allen beteiligten Parteien mitgetragen werden. Strittige Aspekte in Reallaboren reichen von unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie die bespielten Räume aussehen sollen über die Wahl der Kommunikationsmittel bis hin zur Frage wer wie viel Verantwortung trägt und welche Personen Entscheidungen treffen. Vor allem wenn subjektive Gefühlslagen, wie besondere Erinnerungen an den Reallaborort, persönliche Interessen am Reallaborumfeld und zwischenmenschliche Beziehungen aufkommen, können Diskussionen und Aushandlungsprozesse langwierig und kräftezehrend sein. Hinzu kommen die Forschungsziele der Wissenschaftler:innen, die unter dem Druck stehen ihrer Institution und mitunter dem Fördergeber Ergebnisse zu liefern.

So wichtig es ist, Diskussionen über Probleme sowie Lösungswege in Reallaboren anzustoßen, um Veränderungen und Handlungswissen hervorbringen zu können, sprechen wir uns dafür aus, dass Initiator:innen von Reallaboren mitunter mehr Gelassenheit hinsichtlich vom Kernziel abweichenden Handlungen mitbringen sollten. Dabei geht es nicht darum, die Ziele aus den Augen zu verlieren, sondern sie zugunsten der Beteiligung von vielfältigen Akteur:innen, Niederschwelligkeit, Zugänglichkeit und Vertrauen vor allem in der ersten Zeit des Reallaborprojektes hintenanzustellen.

Ziel eines solchen Vorgehens ist es, Menschen zusammenzubringen, gegenseitiges Interesse für Belange zu entwickeln, mehr über das Wissen und die mitgebrachten Erfahrungen von Einzelnen zu erfahren, für Forschung zu sensibilisieren, den zu gestaltenden Raum kennenzulernen und die unterschiedlichen Mitwirkungsmöglichkeiten zu vermitteln. Während von den zu beteiligenden Personen dabei relativ wenig verlangt wird, da große Themen und Ansprüche vermieden werden, um Niederschwelligkeit und Zugänglichkeit zu erreichen sowie Kapitulationen und Rückzüge zu verhindern, erfordert dieser Ansatz von den Initiatior:innen eher viel, insbesondere wenn sie aus der Wissenschaft kommen. Sie müssen ihre Rolle als Forschende zurückstellen und den beteiligten Menschen die Möglichkeit geben, ihre Themen zu äußern, auch wenn diese nicht mit den eigentlichen Forschungszielen übereinstimmen. Aus den Erfahrungen der Realexperimente LutherLAB und WatCraft (Fußnote: Als Umsetzungsakteur:innen haben die Urbanisten gemeinsam mit dem Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule, der Hochschule Bochum und der Bochum Wirtschaftsentwicklung im Forschungsprojekt “UrbaneProduktion.Ruhr” die beiden Realexperimente “LutherLAB” und “WatCraft” durchgeführt. Mehr zum Vorhaben unter www.urbaneproduktion.ruhr) hat sich gezeigt, dass dieses Vorgehen zudem die Chance auf Verstetigung der im Reallabor angestoßenen Prozesse erhöht. In den Bochumer Stadtteilen Langendreer-Alter Bahnhof und Wattenscheid haben sich noch während oder nach der Reallaborphase und auf Initiative beteiligter Menschen Vereine gegründet, um den jeweiligen Raum im Sinne einer nachhaltigen Transformation weiterzuentwickeln (Fußnote: Mehr zu den Aktivitäten der Vereine unter www.lutherlab. de und www.haus-wiesmann.de).

2.2.2 Lernen und Scheitern

Die Perspektive auf Reallabore als Organisation des mit- und voneinander Lernens kann für eine Rückbesinnung auf das Transformationsziel und die Generierung von Wissen, das für gesellschaftlichen, sozialen und technischen Wandel für eine Entwicklung zur Nachhaltigkeit geeignet ist, hilfreich sein (Wagner/Grundwald 2019: 261). Die Verstetigung solcher Lernprozesse, die laut einer Literaturstudie und Befragung des Vernetzungsprojekts SynVer*Z – im Rahmen der BMBF Leitinitiative Zukunftsstadt sowie der Fördermaßnahme „Nachhaltige Transformation urbaner Räume” durchgeführt – zu den Kerncharakteristika und Erfolgsfaktoren von Reallaboren gehört, könnte eine größere Bedeutung zukommen, indem sich die Reallaborinitiator:innen und Beteiligten stärker mit sozialen Lernprozessen in Gruppen und Gesellschaften auseinandersetzen und didaktische Prinzipien aus der Lern- und Bildungsforschung diskutieren und anwenden. Auch Beecroft et al. konstatieren, dass Bildungsziele in Reallaboren im Gegensatz zum häufig diskutierten Wechselspiel zwischen Praxis- und Forschungszielen, in den theoretischen Abhandlungen zu Reallaboren bislang zu wenig beachtet wurden (Beecroft/Trenks/Rhodius et al. 2018: 82). Da individuelles wie gesellschaftliches Lernen für nachhaltige Transformationsprozesse jedoch unabdingbar sind, plädieren die Autoren dafür Bildungsziele „als Teil der Planung, Begleitung und Evaluation von transdisziplinären Projekten“ (Beecroft/Trenks/Rhodius et al. 2018: 82) zu integrieren.

Individuelle Bildungsziele der Beteiligten können Erlernen von Fähigkeiten und Erwerb von Wissen oder Erfahrung sein oder auch das Ziel andere Menschen weiterzubilden (Beecroft/Trenks/Rhodius et al. 2018: 82). Die Bildungsziele der beteiligten Gruppen und Einzelpersonen können sich unter Umständen stark voneinander unterscheiden. Dabei lassen die eingenommenen Rollen nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die Bestrebungen zu. So können Studierende auch Ziele jenseits der formalen Bildung verfolgen und zivilgesellschaftliche Initiativen ihren Erfahrungshorizont über ihren Bereich hinaus erweitern wollen (Beecroft/Trenks/Rhodius et al. 2018: 82). Aus unserer Erfahrung besteht vor allem bei Veranstaltungen im Rahmen von Reallaborprozessen die Gefahr, dass die Angebote als günstige Lernmöglichkeit von Außenstehenden wahrgenommen werden. Um dem entgegenzuwirken können die Initiator:innen den Austausch vor-, während und nach den Veranstaltungen mit den Beteiligten suchen, offene Gespräche über relevante Themen führen und das Reallabor als einen geschützten Rahmen vermitteln, in dem offener Austausch möglich und gewünscht ist. Die Ermöglichung von Diskurs kann laut Schäpke/Stelzer/Caniglia et al. zu sozialem Lernen führen, Vertrauen zwischen den Teilnehmenden aufbauen, Konflikten vorbeugen und kollektive Bedeutungsbildung fördern (2018: 88).

Neben individuellen und sozialen Lernprozessen treten in Reallaboren Lernprozesse auf, die sich auf die transdisziplinäre Kooperation beziehen (Schäpke/Stelzer/Caniglia et al. 2018: 88). Während sich das individuelle Lernen auf die eigene Kompetenzentwicklung und das soziale Lernen sich im Reallaborkontext auf Probleme und Lösungen hinsichtlich Nachhaltigkeit bezieht, geht es bei der dritten Ebene des Lernens um die Frage, wie heterogene Akteur:innen mit unterschiedlichen Interessenslagen und Bestrebungen zusammenarbeiten können. Der Anspruche von Reallaboren auf Transdisziplinarität und der Teilhabe von Praxisakteur:innen, z.B. aus Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft, verlangt die Beschäftigung mit Lernprozessen hinsichtlich dieser „transdisciplinary collaboration“ (Schäpke/Stelzer/Caniglia et al. 2018: 88) und ist zentral für einen gelungenen Reallaborprozess. Zudem können Erkenntnisse, die aus Kooperationserfahrungen und Lernprozessen hinsichtlich Zusammenarbeit generiert werden, systematisiert auf weitere Reallabore übertragen werden.

Um diese Lernprozesse zu fördern, können Initiator:innen von Reallaboren eine angenehme räumliche Atmosphäre schaffen und versuchen das zwischenmenschliche Klima innerhalb des Reallabores positiv zu beeinflussen, zu moderieren, Meinungen, Wünsche und Bedürfnisse immer wieder aufzugreifen und produktive Diskussionen anzustoßen. Laut Schäpke/Stelzer/Caniglia et al. erfordert dies ein hohes Maß an Reflexivität als „Nachdenken über den Einfluss, den die Werte, Normen und Erkenntnistheorien der Akteur:innen auf die Zusammenarbeit haben“ (2018: 88). In der Theorie ist die Notwendigkeit dieser Reflexivität offensichtlich (Schäpke/Stelzer/Bergmann et al. 2017: 5), in der Praxis stecken Wissenschaftler:innen als Initiator:innen der Reallabore in der Doppelrolle zwischen Wissenschaft und Intervention, was eine objektive Reflexivität erschwert. Der offene Austausch mit dem eigenen Team und Beteiligten aus dem eigenen oder anderen Reallaboren kann hilfreich sein, um die Hemmfaktoren für transdisziplinäre Kooperation zu identifizieren, gewonnene Erfahrungen zu analysieren und in transferierbare Erkenntnisse zu überführen.

Zudem spannend ist die Perspektive auf „Scheitern als Wissensquelle“ (Newig 2013: 135) für Transformationsprozesse. Der Nachhaltigkeitswissenschaftler Newig weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in der Regel Best-Practice-Beispiele für eine Entwicklung zur Nachhaltigkeit herangezogen und untersucht werden, während Erfahrungen, die durch gescheiterte Projekte entstehen oft ignoriert werden (Newig 2013: 135). Dadurch bestehe die Gefahr, dass entscheidende Faktoren ausgeblendet werden. Newig plädiert dafür, Scheitern und dessen Faktoren systematisch zu behandeln: „So lässt die Analyse von Auslösern und Mustern von Verfall sowie der Lebenszyklen von Systemen, die Verfall einschließen, Rückschlüsse über die Stabilität von Strukturen und begünstigende Faktoren zu, die gerade in Krisenzeiten von großer Bedeutung sein können“ (2013: 135-136). Für Reallabore bedeutet dies, dass auch eine Auseinandersetzung mit und die Untersuchung von weniger erfolgreichen Versuchen sinnvoll sein kann. Warum wurde eine Veranstaltung kaum besucht? Aus welchem Grund möchten die Beteiligten sich nicht an Evaluation und Reflexion beteiligen? Wieso ist die Zusammenarbeit zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteur:innen gescheitert?

Auch die Auseinandersetzung mit Ansätzen, Zielsetzungen und Vorgehensweisen von praxisorientierten Transition Netzwerken kann an dieser Stelle sinnvoll sein. Zum einen kann der Selbstanspruch entschärft werden, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der „vielschichtige[n], miteinander verwobene[n] Problemmuster“ (Wittmayer/Hölscher 2017: 38), die mit der großen Transformation einhergehen, zu lösen. Stattdessen können auch kleinere Schritte, Erfolge und Misserfolge als nützlich und zielführend betrachtet werden. Zum anderen können Forschende in Reallaboren sich den Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Kooperationen von Transtion Initiativen und Netzwerke mit wissenschaftliche Partner:innen bedienen und so die eigenen Lernprozesse im Rahmen von transdisziplinärer Kooperation (Schäpke/Stelzer/Caniglia et al. 2018: 88) einordnen oder sogar beeinflussen.

2.2.3 Aktionswissen für Transformation

Häufig wird in Reallaboren zwischen wissenschaftlichen Zielen und praktischem Nutzen unterschieden und beide Faktoren getrennt voneinander diskutiert, erhoben und evaluiert (Wagner/Grunwald 2015: 28-29). Dabei stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen nicht dem Anspruch von Ko-Design und Ko-produktion von Reallaboren wiederspricht. Die tatsächliche gemeinschaftliche Entwicklung von Forschungsfragen ist aber bei von wissenschaftlichen Einrichtungen initiierten Reallaboren kaum möglich. Förderbedingungen und Antragsvorhaben verlangen in der Regel klare Zielvorstellungen und konkrete Angaben zu Ergebnissen und deren Verwertbarkeit. In der Folge werden die Forschungsfragen schon vor Projektbeginn festgelegt und die Forschenden stehen in Reallaboren unter dem Druck, diese Fragen zu beantworten, um die Zuwendung nicht zu gefährden.

Reallabore und Praxisprojekte verlaufen in der Realität jedoch selten entlang der meist viele Monate im Vorfeld festgelegten Forschungsagenden. Reallabore sind „Unikate“, die durch technische und vor allem soziale Beziehungen charakterisiert sind und „leben“ (Wagner/Grunwald 2019: 262). Dieses in der Theorie oft vernachlässigte Charakteristikum führt zum einen dazu, dass die Planbarkeit von Reallaboren und ihren Prozessen sich stark in Grenzen hält und sich zum anderen der Ergebnistransfer von einem Reallabor auf ein anderes sehr schwierig gestaltet (Wagner/Grunwald 2019: 262). Praxispartner sehen zudem selten die „Notwendigkeit der Übertragung der Erkenntnisse“ (Wagner/Grunwald 2019: 262) und sind kaum an den schriftlichen und wissenschaftlichen Ergebnissen interessiert (Transition Research Network Experiences). Schneidewind plädiert in diesem Zusammenhang für ein Gleichgewicht zwischen dem Erkenntnisinteresse der Wissenschaft und dem „Transformationsgewinn für die Praxis-Akteure“ (Schneidewind 2014: 4) als handlungsleitendes Wissen.

Welche Methoden innerhalb von Reallaboren verwendet werden können, um diese als wissenschaftliche Erkenntnisinstrumente zu stärken, ist bislang kaum geklärt worden (Wagner/Grunwald 2015: 29). Eine Orientierung am Ansatz der Aktionsforschung könnte dabei helfen. Die Aktionsforschung strebt für die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen eine Kooperation mit der Zivilgesellschaft an und möchte greifbares, anwendbares Aktionswissen und praktische Lösungen für die Forschenden und gesellschaftlichen Akteur:innen erzeugen (Greenwood/Levin 2007: 51; Wittmayer/Hölscher 2017: 42). Es wird also nicht, wie häufig in transdisziplinären Forschung, zwischen unterschiedlichen inhaltlichen Arten von Wissen unterschieden (output, outcome und impact), sondern die „verschiedenen Verwendungszwecke von Wissen“ (Wittmayer/Hölscher 2017: 42) in den Mittelpunkt gerückt. Zur Generierung von Handlungswissen, dass mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung auch in Reallaboren erzeugt werden soll, kann eine Auseinandersetzung mit Methoden und Zielen aus der Aktionsforschung nützlich sein.

 

2.3 Räume: Nachhaltige Orte mit gesellschaftlicher Wirkung

Die realen Räume, in denen Reallabore umgesetzt werden sollen, werden im wissenschaftlichen Diskurs im Vergleich zu Akteur:innen und Prozessen noch am wenigsten beachtet. Einige Projektvorhaben beabsichtigen zwar ausdrücklich nicht die Transformation konkreter Orte wie einzelner Immobilien, einer Menge von Straßen oder eines umgrenzten Quartiers, stattdessen z.B. die Transformation eines Images, einer mentalen Kategorie oder von räumlich nicht festgelegten Handlungsmustern. Teilweise wird sodann davon ausgegangen, dass Reallabore auch im nicht-konkreten Raum oder innerhalb von enträumlichten “gesellschaftlichen Kontexten” wie Branchen, Institutionen, Initiativen, Technologien oder Wertschöpfungsketten stattfinden können (Wagner/Grunwald 2015: 27). Ist die räumliche Umsetzung von Reallaboren also zu vernachlässigen? Kann Reallaborforschung die konkrete Teilhabe an Bodenmärkten, Eigentumsarrangements, regulativer Exposition vermeiden?

Nach Schneidewind (2004) und Groß et al. (2005) dienen Experimente in Reallaboren dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und der Aktivierung von Nachhaltigkeitsprozessen vor Ort. „Umso überraschender ist es, dass der räumliche Kontext dieser Transformationsprozesse bislang wenig thematisiert wurde. […] Die (Wechsel)wirkungen von Nachhaltigkeitsexperimenten in und mit ihren jeweiligen räumlichen Kontexten wurden noch nicht systematisch beschrieben.“ (von Wirth/Levin-Keitel 2020: 98). Es stellten sich die Fragen, „inwiefern Nachhaltigkeitsexperimente als gezielte räumliche Interventionen geeignet sind, zum Beispiel um existierende formelle Raumplanungsprozesse zu ergänzen“ (von Wirth/Levin-Keitel 2020: 98) und welche analytischen Kategorien zur Einordnung der Übertragbarkeit in andere räumliche Kontexte herangezogen werden können.

Abhängig von der Herausforderung, der mit handlungsorientierter Reallaborforschung begegnet werden soll, ergeben sich andere Anforderungen und Chancen der räumlichen Manifestation. Bott/Grassl/Hellstern et. al nennen als Herausforderungen der nachhaltigen Stadtentwicklung etwa die Themen „Mensch und Soziokultur, Soziales Gefüge, Lebensstile und Verhaltensweisen, Arten- und Biotopschutz, Stadtklima, Wasser- und Bodenschutz, Stoffströme, Mobilität und Verkehr, Energie, Emissionen, Ökonomie“ (2013). Darin enthalten sind „gesellschaftliche Herausforderungen […], die sich einer unmittelbaren Problemrahmung und einfachen Lösungsansätzen entziehen“ (von Wirth/Levin-Keitel 2020: 99).

Ausgehend von dem physisch-materiell-absolutistischem Raumbegriff Newtons und Kants sowie dem sozial-ökologisch-konstruktivistischem Raumbegriff Arendts und Werlens schlagen von Wirth und Levin-Keitel vier Raumdimensionen als Kategorien eines sozio-materiell-relationalem Raumbegriffs vor: die materiell-physische, die handlungsbezogen-prozedurale, die regulativ-institutionalisierte, die kulturell-symbolische Raumdimension (2020: 101). Diese Ausdifferenzierung kann bei der Gestaltung der Arbeitspakete vor oder während der Antragstellung, bei der Betrachtung der Systemelemente in der analytisch-konzeptionellen Phase, sowie bei einer (neuen) Schwerpunktsetzung in den Verhandlungen der Partnerinnen vor oder während der Projektumsetzung helfen.

„[D]ie vier Raumdimensionen [sind] lediglich in ihrer analytischen Funktion trennbar. In der Ganzheit der räumlichen Kontexte treten diese überlagernd, gleichzeitig und in gegenseitiger Wechselwirkung auf“ (von Wirth/Levin-Keitel 2020: 102). Auch in unseren Erfahrungen in der Umsetzung von Reallaboren in Realexperimenten waren alle diese Raumdimensionen relevant: So berühren Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Re-Integration von materieller Produktion in gemischte Quartiere (UrbaneProduktion.Ruhr) bespielsweise sowohl die physisch-gebaute Realität, individuelles Konsumverhalten und Lebensstile, die baulichen und marktordnenden Zulässigkeiten als auch (gemeinschaftliche) Repräsentationen von Vergangenheit und Zukunft eines Quartiers. Soll ein Experiment der Anforderung gerecht werden, tatsächlich zu nachhaltigen, d.h. zu verstetigenden Transformationen beizutragen, erhalten die spezifischen raumbezogenen Bindungen noch mehr Gewicht: Was ist vor Ort dauerhaft machbar?

Parodi/Beecorft/Albiez et al. nennen die Anforderungen an einen Reallaborort: “Sichtbarkeit, Zugänglichkeit, Adressbildung und Adressierbarkeit” (2016: 13). Beteiligte Menschen sollen sich treffen und austauschen, “Identifikation und Auseinandersetzung” sollen möglich sein, der Ort soll eine “Ernst- und Dauerhaftigkeit” vermitteln, das Vertrauensverhältnis zwischen Forschenden und Praxispartner:innen stärken, die “Bereitstellung, Generierung und Bündelung von wissenschaftlichem, lokalen und lebensweltlichem Wissen” und Diskussionen um nachhaltige Entwicklung mit lokalem Bezug verstetigen und unterstützende Bedingungen für “Partizipationsprozesse auf allen Stufen” sowie Bildungsangebote schaffen (Parodi/Beecorft/Albiez et al. 2016: 13). Wie sieht ein solcher Ort aus, an dem sich verschiedene Menschen wohlfühlen, aufhalten und mit anderen, fremden Menschen in Kontakt kommen? Wie kann eine Balance zwischen Wohlfühl- und Arbeitsatmosphäre erreicht werden? Wo muss sich ein solcher Ort befinden? Wie können verfügbare Räume für Reallabore zur Verfügung gestellt werden? Inspiration für die Beantwortung dieser Fragen kann in bestehenden, gemeinschaftlich organisierten Raumnutzungsprojekten entdeckt werden.

Es gibt vielerorts Initiativen, die sich die gemeinschaftliche Wiederbelebung vernachlässigter Räume, insbesondere von Leerständen zum Ziel gesetzt haben. Das seit längerer Zeit vorrangig in Metropolen wie Amsterdam und Berlin bestehende Phänomen erhielt spätestens 1996 Ansehen als Instrument der städtebaulichen Revitalisierung, als das Land Nordrhein-Westfalen das Programm Initiative ergreifen mit der Absicht auflegte, “ungewöhnliche Bürgerprojekte zu fördern, neue Arbeit zu schaffen und die Lebensqualität in Siedlungen und Stadtteilen zu verbessern” (Dahlheimer 2007: 57). Es fördert “Projekte der Umnutzung denkmalgeschützter, industriekulturell und städtebaulich bedeutsamer Gebäude, neue Infrastruktur für nachbarschaftliches Zusammenleben, Bürgerhäuser und Kulturzentren, die Investition in Steine verbunden mit der Investition in die Köpfe” (Dahlheimer 2007: 58). Seit Beginn des Programms wurden 84 bürgerschaftliche Immobilienprojekte qualifiziert und finanziell unterstützt (MHKBG NRW 2020).

Das Land Bremen hat 2009 die ZwischenZeitZentrale (ZZZ) ins Leben gerufen, die seitdem in Bestandsimmobilien ohne unmittelbare Anschlussnutzung Zwischennutzungen in enger Absprache mit den Nachfrager:innen kleinteiliger Flächen, den Anbieter:innen/Eigentümer:innen und den relevanten Genehmigungsbehörden organisiert (Hasemann/Schnier/Angenendt et al. 2017: 184-185). Wie im Landesprogramm Initiative ergreifen verknüpft die ZZZ gemeinschaftliche Ziele einer ästhetisch-funktional höherwertigen Stadtqualität mit privaten Zielen wie Unternehmensgründungen, kultureller (Selbst-)Verwirklichung und sozialer Interaktion: Die ZZZ strebt “die Schaffung von Urbanen Laboren als Entstehungsorte für neue Formen des Zusammenarbeitens und -lebens” an, die “experimentelle und multifunktionale Möglichkeitsräume in neuen Nachbarschaften” sein und “darüber hinaus Raum zum Kennenlernen und Austauschen” sowie “Büro- und Arbeitsräume” zur Verfügung stellen und damit “Schnittstellen für bestehende und neu geschaffene Kultur- und Bildungsangebote im Stadtteil” bilden wollen (Hasemann/Schnier/Angenendt et al. 2017: 184-185).

Teilweise entstehen derartige kooperative Raumaneignungen durch die Initiative einer Hochschule, etwa das Impact Lab “Green City – Just City?” der Humboldt Universtiät Berlin, das ohne eine Verortung im Reallabor-Kontext auskommt: “[It] allows students to understand processes and strategies of urban appropriation from the inside, whilst retaining a critical and multi-disciplinary view from the outside” (Mameli/Polleter/Rosengren et al. 2018: 91-102). Einige Nachhaltigkeitsinitiativen verbinden das Bedürfnis, skalier- und reproduzierbare Lösungen für Nachhaltigkeitsprobleme zu schaffen mit der Entwicklung von konkreten Orten, etwa durch den Aufbau von Leihläden oder Geflüchtetenunterkünften (Baier/Hansing/Müller et al. 2016). Die Montag-Stiftung Urbane Räume hat für diese gemeinwohlorientierten Immobilienprojekte den Begriff Immovilien geprägt (Webseite Netzwerk Immovilien).

All diese Initiativen folgen einer Entwicklung, die sich als “neuer offener Kooperativismus” (Silke Helfrich in Baier/Hansing/Müller et al. 2016: 72) beschreiben lässt. Der starke Fokus auf nachhaltige Prozesse an gemeinschaftlich ausgestalteten Orten befördert Selbstwirksamkeit und Zusammenarbeit, dadurch individuelle Motivation und gesellschaftliche Effektivität. Bestehende Forschungsvorhaben mit Reallaborcharakter, die sich konkret verorten wollen, können sich an den Umsetzungen zivilgesellschaftlicher Immovielienprojekte orientieren, mindestens in der Klärung der oft fraglichen steuerrechtlichen, abrechnungstechnischen, haftungsbezogenen Detailfragen. Möglicherweise können sich neu formierende Reallaborvorhaben aber auch mit oder gar durch die ortsbezogenen Initiativen selbst gründen, um die soziale Durchmischung, die Langfristigkeit und tatsächliche Breitenwirkung des Projekts zu sichern oder zu verbessern. Eine räumliche Überlagerung der konzeptionellen Funktionen Treffpunkt, Verhandlungsort, Kulisse und Wirkraum kann die Identifikation aller Beteiligten erhöhen.

 

3 Reallabore in der Stadtentwicklung

Es ist wichtig, dass ein Reallabor als wissenschaftliches Instrument strukturiertes Wissen erzeugt. Aber es ist auch wichtig, dass Reallabore den Untersuchungsgegenstand im Sinne einer aktivierenden Transformation als tatsächlichen Gestaltungsgegenstand begreifen und bereit sind, zu pragmatischen, effektiven Lösungen für partikulare, realweltliche Probleme beizutragen. “There is a preoccupation with the distance between knowledge and practice, as if knowledge for ever cuts itself off from the individual, to which, by necessity, action and practice are committed. Practical wisdom engages with the individual, with the contingent this-ness of things, but can only ever do so in blindness. Aristotle gives the name experience to the ground which allows this deliberation. But there can be no science of the individual” (Forrester 1996).

So fordern von Wirth und Levin-Keitel auch “Übersetzungsleistungen, die den großräumigen Transformationsansprüchen eine lokale Notwendigkeit und Legitimität gegenüberstellen” (von Wirth/Levin-Keitel 2020: 104). Hierzu müssen in Reallaboren auch diejenigen Personen ohne wissenschaftliche Ausbildung oder Expertise an einem gemeinschaftlichen Erkenntnisgewinn beteiligt werden. Deshalb müssen wir uns auch mit vermeintlich unwissenschaftlichen, von lokalem Erfahrungswissen geleiteten Rechtfertigungsstrategien auseinandersetzen. “I believe that, in point of fact, when drawing inferences from our personal experience and not from maxims handed down to us by books or tradition, we much oftener conclude from particulars to particulars directly than through the intermediate agency of any general proposition. We are continually reasoning from ourselves to other people, or from one person to another, without giving ourselves the trouble to erect our observations into general maxims of human or external nature […] We all, where we have no definite maxims to steer by, guide ourselves in the same way; and if we have extensive experience and retain its impressions strongly, we may acquire in this manner a very considerable power of accurate judgment, which we may be utterly incapable of justifying or communicating to others” (Mill 1884: 123).

3.1 Stadt gemeinsam gestalten

Reallabore als transdisziplinäres Instrument, die als Ziel die nachhaltige Raumentwicklung und -gestaltung anstreben, müssen sich auch gegenüber den ‘klassischen’ formellen und informellen Instrumenten der Stadtentwicklung einordnen. Die im Zuge des Reallabors entstandenen lokalen Partnerschaften, Arbeitsgruppen, neuen intermediären Organisationen können als vorbereitendes Element der Grundlagenermittlung und Vorplanung (Bott/Grassl/Hellstern et al. 2013: 105) dienen und für bauleitplanerische Partizipationsprozesse wirksam werden (Fürst/Scholles 2008: 169). Sie können auch eine kommunale Governance, deren Verständnis oftmals eher nur die Einbindung bereits institutionalisierter Akteur:innen umfasst (Selle 2018: 32), um eine spezifische thematisch-lokale Agentur bereichern. Gestaltungswünsche oder Bedürfnisäußerungen im Quartier werden manchmal erst erhört, wenn Gruppen aus Forschenden sie sicht- und lesbar machen, auch wenn Selle hier skeptisch ist: “Zu zahlreich sind die Akteur:innen, die auf den Raum einwirken. Zu vielfältig und verschieden die Aktionen, Interdependezen und Interferenzen. Oft wissen nicht einmal die Ressorts von der Stadtverwaltung voneinander, wer auf welche Weise im gleichen Raum aktiv ist. Nahezu vollständig unerkannt bleiben die zahlreichen privaten Pläne und Aktivitäten […]. Mit einem um Integration des Handelns vieler Akteur:innen bemühten Planungsansatz wird man selbst bei größtem Aufwand immer nur Teile dieser Vielfalt erkennen (und nutzen) können. Das gilt in noch deutlicherer Ausprägung für Forschung, die solche Prozesse begleitet” (Selle 2018: 417).

Die Ähnlichkeit der Herausforderungen zwischen der (recht neuen) Reallaborpraxis und der (recht alltäglichen) Planungspraxis wird auch bei Selle deutlich, der nach Rittel festhält, es handele sich um Probleme, die nicht abschließend definiert sind, keine festgelegten Lösungswege haben, kein richtig oder falsch als Beurteilung zulassen (Selle 2018: 417). Die Lösung für die Planungspraxis sei, Planung als Prozess zu verstehen, “in dessen Verlauf allmählich bei den Beteiligten eine Vorstellung vom Problem und der Lösung entsteht, und zwar als Produkt ununterbrochenen Urteilens, das wiederum kritischer Argumentation unterworfen wird” (Selle 2018: 417), nach Rittel 1992: 23). Dadurch erhält dann auch die künstlerische Methode Einzug in den Methodenbaukasten des Reallabors.

Nach Reinermann und Behr (2017) ist die kulturelle und kreative Dimension von Nachhaltigkeit ein Motor in Reallaborprozessen. Die kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit rückt im Gegensatz zu den oft technologisch ausgerichteten Lösungsansätzen den Menschen, seine alltäglichen Erfahrungen und das menschliche Zusammenleben in den Mittelpunkt des Transformationsgeschehens (2017: 3). Durch kommunikatives Handeln als Grundlage von wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso wie alltäglichen Aushandlungsprozesse wird ein Wandel von Werten, Normen und nachhaltiges Handeln erwartet (Reinermann/Behr 2017: 3-4). Kreativität beschreibt einen erfolgreichen Schritt ins Ungewisse, die Abkehr von üblichen Wegen, eine Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen, die Bereitschaft zu interativen Prozessen und wird immer öfter als Möglichkeit gesehen, Lösungen für nachhaltigkeitsrelevante Problemstellungen zu entwickeln (Reinermann/Behr 2017: 10-11). Für eine Förderung dieser Art von Kreativität braucht es konkrete Räume, in denen sich Menschen der eigenen Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für eine nachhaltige Entwicklung bewusst werden. Kreativität verlangt zudem nach Störsituationen, in denen „routiniertes Handeln der Menschen gestört“ (Reinermann/Behr 2017: 11) wird.

 

4 Fazit

Tatsächlich werden viele der von uns festgestellten Herausforderungen in der Zusammenarbeit innerhalb des Spektrums zwischen Forschung und Praxis noch immer nicht als solche wahrgenommen. So ist von wissenschaftlicher Seite weiter zu hören, ein unbezahltes Engagement von Bürgerinnen für Forschungsprojekte in ihrer Freizeit sei “selbstverständlich”. Auch die Einhaltung der Bedingungen einer fairen und respektvollen Kooperation bedürfen einer fortlaufenden Überprüfung. Umgekehrt müssen die Praxisakteure stärker für die oft komplexen und exklusiven Inhalte der raum- und planungswissenschaftlichen Forschung sensibilisiert werden. Personen und Organisationen zwischen den Polen Forschung und Praxis müssen sich im Reallabor fortlaufend über Betrachtungsgegenstand und Aktionsebene austauschen und einigen, um ein Auseinanderdriften der Zielstellung zu vermeiden, eine gemeinsame Sprache zu wahren und tatsächlich voneinander zu lernen.

 

August 2020
Annette Bathen, Jan Bunse

 

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